Bild: DaimlerChrysler „Übermüdung“ gilt laut der amtlichen deutschen Statistik als Ursache von rund 0,5 Prozent aller schweren Verkehrsunfälle. Im vergangenen Jahr stellte die Polizei bei insgesamt 3034 Unfällen Übermüdung als Ursache fest, darunter waren 1786 Kollisionen mit Personenschaden. Das entspricht rund 0,5 Prozent aller schweren Unfälle. Doch die Dunkelziffer ist nach Meinung von Fachleuten weitaus größer, da sich Müdigkeit bei der Unfallrekonstruktion oft nicht mehr feststellen und nachweisen lässt. Verschiedene wissenschaftliche Studien gehen davon aus, dass zwischen 10 und 20 Prozent der schweren Verkehrsunfälle auf Übermüdung zurückzuführen sind. Laut einer Untersuchung der deutschen Versicherungsgesellschaften ist Müdigkeit die Ursache jedes vierten tödlichen Autobahnunfalls. Die Wahrscheinlichkeit, durch Übermüdung tödlich zu verunglücken, ist mehr als 2,5-mal größer als bei allen anderen Unfallursachen.
Auch ausländische Unfallforscher bestätigen diese Erkenntnisse. Die amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde NHTSA (National Highway Traffic Safety Administration) schätzt, dass sich in den USA wegen Übermüdung der Autofahrer jährlich über 100 000 Unfälle mit 71 000 Verletzten und rund 1500 Getöteten ereignen. Das Risiko eines Unfalls oder Beinahe-Unfalls steigt laut NHTSA bei Müdigkeit um das Vier- bis Sechsfache. In Kanada stellten Wissenschaftler bei einer Studie über Müdigkeit am Steuer fest, dass jeder fünfte Autolenker schon einmal während der Fahrt eingenickt sei.
Zwei Drittel der Müdigkeitsunfälle passieren in der Dunkelheit, jeder zweite bei geringer Verkehrsdichte. Die meisten Unglücke dieser Art ereignen sich in den frühen Morgenstunden zwischen zwei und sechs Uhr, aber auch am Nachmittag.
Mercedes-Assistenzsysteme auf das reale Unfallgeschehen abgestimmt
Bei der Entwicklung von Fahrer-Assistenzsystemen orientiert sich Mercedes-Benz seit jeher am realen Unfallgeschehen und sucht mithilfe moderner Technologie nach Möglichkeiten, die Fahrsicherheit in kritischen Situationen zu verbessern. Im Fokus standen bisher die besonders folgenschweren Fahr-, Auffahr-, Nacht- und Fußgängerunfälle. Dabei erzielten die Ingenieure der Stuttgarter Automobilmarke beachtliche Ergebnisse, wie die Unfallstatistik bestätigt:
Durch den serienmäßigen Einsatz des Elektronischen Stabilitäts-Programms (ESP®) verringerte sich der Anteil der folgenschweren Fahrunfälle in der Unfallbilanz der Mercedes-Personenwagen um mehr als 42 Prozent.
Der ebenfalls von Mercedes-Benz erfundene und seit 1997 serienmäßige Bremsassistent (BAS) trug dazu bei, dass die Quote der Auffahrunfälle (je 10 000 neu zugelassener Fahrzeuge) bei den Mercedes-Personenwagen um acht Prozent zurückging. Gleichzeitig verringerte sich durch BAS der Anteil schwerer Fußgängerunfälle um 13 Prozent.
Mit dem neuesten Projekt Müdigkeits-Erkennung setzen die Mercedes-Fachleute ihr praxisorientiertes Engagement zur Unfallvermeidung fort. Die Entwicklung des neuartigen Systems begann vor einigen Jahren mit einer Versuchsreihe im Berliner Fahrsimulator. Es folgten Nachtfahrten auf Autobahnen, an denen bis heute über 150 Testpersonen teilnahmen. Sie legten bisher insgesamt mehr als 250 000 Kilometer zurück.
Verschiedene Verfahren zur Müdigkeits-Erkennung in der Erprobung
Im Rahmen dieser Praxisuntersuchungen erprobt das Expertenteam aus Ingenieuren, Kybernetikern, Mathematikern, Informatikern und Psychologen verschiedene Möglichkeiten, um Müdigkeit bei Autofahrern bereits im Ansatz zu erkennen. Eines dieser Verfahren ist die von amerikanischen Wissenschaftlern entwickelte Lidschlag-Beobachtung: Eine auf den Kopf des Autofahrers gerichtete Infrarotkamera registriert permanent die Lidschlagfrequenz und erkennt sofort, wenn beim Sekundenschlaf die Augen für einige Zeit geschlossen bleiben. Dann ertönt im Auto-Cockpit ein Warnsignal.
Auch andere physiologische Messungen wie das Elektroenzephalogramm (EEG) werden eingesetzt, um objektive Indikatoren für Ermüdung zu erhalten. Eine andere Methode basiert auf der Analyse von Fahrdynamikdaten, wie zum Beispiel dem Lenk- und Bremsverhalten. Eines dieser Systeme löst Alarm aus, wenn der Autofahrer die Lenkung für längere Zeit nicht bewegt hat.
Müdigkeits-Erkennung durch Kombination von Mess- und Erfahrungswerten
Die ersten Testergebnisse der Sindelfinger Ingenieure zeigen jedoch, dass die Betrachtung einzelner Kriterien nicht ausreicht, um Ermüdung zuverlässig festzustellen. Müdigkeit ist ein sehr komplexes und individuell unterschiedlich auftretendes Phänomen. Deshalb wird Mercedes-Benz zur Müdigkeits-Erkennung eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigen, zum Beispiel den individuellen Fahrstil, die Fahrtdauer, die jeweilige Tageszeit und die aktuelle Verkehrssituation. Diese Daten wird das System kontinuierlich mit gespeicherten Erfahrungswerten vergleichen, bildet so ein individuelles Fahrerprofil und stellt auf Basis einer Wahrscheinlichkeitsrechnung fest, ob Anzeichen für eine beginnende Müdigkeit vorliegen oder nicht.
Die Hauptaufgabe der Entwicklungsarbeit besteht darin, den gleitenden Übergang vom Wachzustand zur Ermüdung, also von hoher Konzentrationsfähigkeit zu deutlichem Aufmerksamkeitsdefizit, zu erkennen und den Autolenker zu warnen, bevor er ermüdet und die Fahrt deshalb gefährlich werden kann.
Unfallursache Müdigkeit: Zwischen Schlaf und Traum
Schläfrige Autofahrer mit dem Reaktionsvermögen von Alkoholsündern
Sekundenschlaf als gefährliches Phänomen der Übermüdung
Müdigkeit ist zwar eine natürliche, aber dennoch tückische Reaktion des Körpers, denn sie wird von vielen Autofahrern nicht richtig wahrgenommen. Sie sind erschöpft und brauchen Schlaf, fahren aber trotzdem weiter - mit hohem Risiko.
Was in solchen Situationen droht, nennen Experten „Sekundenschlaf“: eine spontane Reaktion des Organismus auf Übermüdung. Die Augen beginnen zu brennen, die Lidschläge werden häufiger, aber zugleich langsamer, die Pupillen kleiner, man gähnt und fröstelt - das sind untrügerische Vorboten dieses Phänomens. Bleiben dann die Augen auch nur eine Sekunde länger geschlossen als üblich, kann das fatale Folgen haben, denn in dieser Sekunde legt das Auto bei Tempo 100 immerhin 28 Meter zurück - führerlos und damit unkontrolliert.
Ebenso tückisch ist der Sekundenschlaf bei offenen Augen, den Wissenschaftler ebenfalls oft bei ihren Untersuchungen feststellen. In diesem Schlafzustand werden die Wahrnehmungen der Augen gar nicht oder nur sehr langsam vom Gehirn verarbeitet, sodass sich die Reaktionszeiten deutlich verlängern.
Dunkelheit, Monotonie und Überbeanspruchung gelten als die häufigsten Ursachen des Sekundenschlafs am Steuer. Bei einer Befragung in Kanada gaben 27 Prozent der Autolenker an, auf großen Strecken regelmäßig zwischen vier und sechs Stunden ohne Pause zu fahren. Untersuchungen zeigen jedoch, dass sich die Reaktionszeit von Autofahrern schon nach vier Stunden Nonstop-Fahrt um 50 Prozent verlängern kann. Das Unfallrisiko verdoppelt sich nach einer solchen Fahrzeit, nach sechs Stunden hinter dem Lenkrad steigt es sogar um mehr als das Achtfache an.
Müde Autofahrer reagieren aber nicht nur langsamer und beurteilen Gefahrensituationen falsch, sie überschätzen auch ihre eigene Leistungsfähigkeit und fühlen sich wacher als sie es tatsächlich sind - typische Müdigkeits-Symptome, die ebenso nach starkem Alkoholkonsum beobachtet werden.
Menschen mit chronischen Schlafstörungen besonders gefährdet
Eine andere Ursache der gefährlichen Müdigkeitsattacken während der Fahrt ist Schlafmangel. Laut Studien leiden in Europa mindestens 20 Prozent der Menschen an Schlafstörungen in der Nacht. Mehr als jeder vierte Autofahrer, der bei der kanadischen Befragung zugab, öfters am Lenkrad einzunicken, schläft nachts weniger als sechs Stunden.
Besonders betroffen sind Menschen, die unter dem sogenannten Schlafapnoe-Syndrom leiden. Es führt zu mehreren kurzen Atemaussetzern und plötzlichem Aufwachen, sodass die erholsamen Tiefschlafphasen meist nicht erreicht werden. Deshalb fühlen sich solche Patienten tagsüber müde, sie sind unkonzentriert und neigen zum Einschlafen - der Sekundenschlaf ist quasi eine Notwehrreaktion des Körpers auf Schlafstörungen und Schlafmangel in der Nacht. Bei einer Untersuchung stellten Wissenschafter der Bochumer Ruhr-Universität fest, dass Menschen mit Schlafapnoe im Straßenverkehr ein zwei- bis dreifach höheres Unfallrisiko haben. Bei Tests in einem Fahrsimulator verursachten sie „signifikant mehr Unfälle“ und zeigten „deutlich mehr Konzentrationsfehler mit potenzieller Unfallfolge“.
Nach Schätzungen leiden allein in Deutschland über 800 000 Menschen unter dem Schlafapnoe-Syndrom.
Größte Unfallgefahr am frühen Morgen und in der Mittagszeit
Verkehrsunfälle durch Übermüdung ereignen sich laut Studien der deutschen Versicherungen und der Schweizerischen Beratungsstelle für Unfallverhütung meist in den frühen Morgenstunden zwischen zwei und sechs Uhr sowie am Nachmittag. Schuld daran trägt neben Müdigkeit auch der Bio-Rhythmus: Der Organismus ist in dieser Zeit auf Schlaf und Erholung eingestellt. Rapide sinkt die Leistungsfähigkeit des Menschen ab 22 Uhr ab und fällt zwischen drei und vier Uhr morgens auf ihren Tiefpunkt. Das volle Leistungsvermögen wird dann erst wieder am Vormittag erreicht, der besten Tageszeit für lange Autoreisen.
Nach Erkenntnis von Verkehrswissenschaftlern sind viele Autolenker zwar in der Lage, die eigene Ermüdung zu erkennen, doch dann ist es oft schon zu spät. Müdigkeit macht sich in der Regel nicht schlagartig bemerkbar, sondern baut sich über einen gewissen Zeitraum auf. Dabei lassen Reaktionsvermögen und Wahrnehmungsfähigkeit kontinuierlich so stark nach, dass Autofahrer schon in frühen Phasen der Ermüdung unter Umständen nicht mehr richtig handeln können. Das von Mercedes-Benz konzipierte Fahrer-Assistenzsystem, das Müdigkeit bereits im Ansatz automatisch erkennen kann und den Fahrer warnt, kann deshalb einen wichtigen Beitrag zur Verkehrssicherheit leisten.
Abhilfe gegen plötzliche Müdigkeitsattacken schafft nur eines: Pause machen. Dabei eignen sich Kaffee, Cola oder Energy-Drinks nur als kurzzeitige Muntermacher, die anschließend oft ein noch größeres Müdigkeitsproblem hinterlassen. Stattdessen zeigt ein Spaziergang an der frischen Luft oft weitaus größere Wirkung. Die mit Abstand beste Maßnahme gegen Müdigkeit lautet indes: schlafen.